Trainingsmaterial Nr. 64

Inhaltsverzeichnis

Glanzstücke der Schachgeschichte – Folge 26
4 x 4 im Quizformat
Bauernwettlauf
Ein Bauernendspiel genauer betrachtet
Grobs Angriff und das Romford-Gambit
Nachschlag




Glanzstücke der Schachgeschichte

Zunächst sehen wir heute einen geradezu unglaublichen Gewinnzug des tschechisch/deutschen Großmeisters Pachman. Über seine Lebensgeschichte, die ein Spiegelbild politischer Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ist, informiere man sich gern in anderen Quellen. Doch nun zu seinem phantastischen Gewinnzug.
Domnitz – Pachman, Israel 1973

Damenfang dort – Damenopfer hier: Sehen wir ein zumindest sehr seltenes taktisches Motiv aus einer aktuellen Partie:
Saiyn – Sanal, Katar 2015

Ein eindrucksvoller Mattangriff gelang dem für Berlin spielenden polnischen Großmeister Mista in der Schach-Bundesliga.
Maiwald – Mista, Deutschland 2016


Seit (seinen) Kindesbeinen verfolge ich mit großer Sympathie die Karriere des jungen Berliner FIDE-Meisters Philipp Lerch. Er wurde 2011 Deutscher Meister der Altersklasse U14. Dies war ein Schritt auf dem kontinuierlichen Weg nach oben. Zwei weitere konnte ich jeweils als Turnierteilnehmer live erleben und möchte die herausragenden Partien hier vorstellen.
Beim Lichtenrader Herbst 2014 holte Philipp die entscheidenden Punkte zum Erwerb des FIDE-Meister-Titels. Ausschlaggebend war diese Partie gegen den serbischen IM Milanovic.
Milanovic – Lerch, Berlin 2014
Gut ein Jahr später gewann Philipp ein Open mit Spielern aus 20 Ländern in seiner Heimatstadt. Die Entscheidung fiel durch ein echtes Finale am Spitzenbrett der letzten Runde gegen den slowakischen IM Pacher. Erneut gelang eine höchst emotionale Partie, welche einige Zuschauer sogar noch während der Runde zu Beifall veranlasste.
Lerch – Pacher, Berlin 2015




4 x 4 – Im Quiz-Format

Bitte löst auch diesmal die Aufgaben "vom Blatt" ohne Computerhilfe und möglichst auch ohne Schachbrett.

  1. Schwarz ist am Zug. Um im Bauernwettlauf eine Chance zu haben, muss der König die a-Linie räumen. Wohin soll er ziehen?
    1. Nach b5
    2. Nach b4
    3. Nach b3
    4. Alle drei Züge sind gleichwertig.

  2. Weiß ist am Zuge. Wie wird dieses Bauernendspiel ausgehen?
    1. Schwarz gewinnt wegen des Freibauern e3.
    2. Weiß kann den Sieg erzwingen.
    3. Wenn beide Spieler die besten Züge finden, endet die Partie remis.
    4. Schwarz gewinnt auch ohne den Freibauern e3.
Bild Bild
Aufgabe 1 Aufgabe 2
  1. Für den starken Angriff gegen g3 hat Schwarz eine Qualität geopfert. Weiß ist am Zuge. Wie wird die Partie weitergehen?
    1. Der Druck gegen g3 ist zu stark. Weiß kann aufgeben.
    2. Nach 32.Lg2-h3 ist die schwarze Dame gefangen. Weiß gewinnt.
    3. Weiß hat einen deutlich besseren Zug als Lg2-h3.
    4. Weiß fängt mit Lg2-h3 die Dame, aber das reicht nicht zum Sieg.

  2. OK – Das gehört eher in die Rubrik "Final Fun". Aber wir haben diesmal viel schwere Kost, da kann uns diese Aufgabe nicht verunsichern. Weiß ist am Zuge.
    1. Mit zwei Springern allein kann man nicht gewinnen – remis.
    2. Weiß gewinnt, weil er eine Figur mehr hat.
    3. Weiß gewinnt durch das Motiv Zugzwang.
    4. Weiß gewinnt, weil Schwarz mit dem eigenen Springer kein Patt erreicht.
Bild Bild
Aufgabe 3 Aufgabe 4
Die Lösungen

Bitte erst in die Lösungen schauen, wenn Ihr euch für eine der Antworten A – D entschieden habt.
Aufgabe 1: Die Lösungsbesprechung hierzu findet ihr im folgenden Abschnitt "Bauern im Wettlauf"
Aufgabe 2: Die Lösungsbesprechung hierzu findet ihr im Abschnitt "Ein Bauernendspiel genauer betrachtet"
Aufgabe 3: Hing Ting Lai – Bauer, Niederlande 2016
Aufgabe 4: Scherzaufgabe(?) von Herman Grooten




Bauern im Wettlauf

Heute geht es um Endspiele, in denen beide Seiten mit einem Bauern unbeirrbar zur gegnerischen Grundlinie streben. Bei diesem Wettlauf kommt es auf genaues Zählen an. Aber nicht immer gewinnt derjenige die Partie, der dieses Wettrennen für sich entscheidet.

Sehen wir als Einstimmung die Besprechung der 1. Aufgabe aus obigem Quiz-Quartett:
Schilly – Pour Tak Dost, Berlin 2015

Mark Dworetzki hat in seiner großartigen "Endspieluniversität" zusammengetragen, welchen möglichen Verlauf das Bauernrennen nehmen kann:

  1. Ein Randbauer wird zur Dame und hält dadurch den gegnerischen Randbauern auf.
  2. Ein Bauer verwandelt sich mit Schachgebot und hindert damit den gegnerischen Bauern an der Umwandlung.
  3. Es entsteht ein Endspiel "Dame gegen Bauer auf der vorletzten Reihe".
  4. Beide Bauern verwandeln sich, und dann
    1. geht eine Dame durch ein Schachgebot sofort wieder verloren.
    2. wird einer der Spieler mattgesetzt.
    3. werden die Damen getauscht und es geht mit einem Bauernendspiel weiter.
    4. verbleibt man im Damenendspiel, welches eine große Tendenz zum Remis durch Dauerschach hat.

Unser erstes Beispiel hat bereits einiges von diesen möglichen Ausgängen offenbart. Wichtigstes Motiv war die Umwandlung mit Schachgebot bzw. die Vermeidung dessen (Punkt 2). In der Partiefolge musste Schwarz zunächst den Damentausch (Punkt 4c) vermeiden und erreichte später ein Damenendspiel (Punkt 4d) mit Remis.

Wir haben hier gesehen, wie es zuweilen möglich ist, die Umwandlung mit Schach zu erzwingen. Eine oft gesehene Technik zu diesem Zweck basiert auf dem Einsatz eines zweiten Bauern:
Studie von Tschatschaturow, 1947

Sehen wir uns einige weitere wichtige Konstellationen an:
Zunächst ganz trivial der Fall aus Dworetzkis Punkt 1. Man staunt allerdings, wie oft dieser einfache Zusammenhang übersehen wird:
Lehrbeispiel Randbauern I
Das war trivial, doch schon eine leichte Verschiebung der Könige sorgt für einen ganz anderen Partieausgang.
Lehrbeispiel Randbauern II
Im zweiten Beispiel sind wir also in das Endspiel der Dame gegen einen Bauern auf der vorletzten Reihe gelangt. Wir wissen aus Trainingseinheit 12, dass die Bewertung solcher Stellungen davon abhängt, auf welcher Linie der verbliebene Bauer steht. Auch in einem der Herderschach-Videos haben wir uns ausführlich mit diesem Thema beschäftigt.

Vielschichtige Aspekte unseres Themas vereint die nachfolgende Studie von Moravec. Weiß muss den Damenverlust durch Schachgebot (Punkt 4a bei Dworetzki) vermeiden. In manchen Abspielen bleiben wir im Bauernendspiel und erinnern uns des guten alten Motivs mit beiderseitigem Zugzwang.
Studie von Moravec, 1925

Schließlich noch zu der Möglichkeit, nach beiderseitiger Umwandlung ein schnelles Matt anzustreben (Punkt 4b).
Studie von Grigoriew, 1928
In diesem Zusammenhang sei auch an eine Variante zu der 2003 gespielten Partie Strate – Arndt erinnert, die wir aus Trainingseinheit 18 kennen.




Ein Bauernendspiel genauer betrachtet

Bild Zurück zu unserem Bauernendspiel aus Aufgabe 2 des obigen Quiz-Formats. Habt ihr euch einen Eindruck verschafft, wie dieses Endspiel mit Weiß am Zuge verlaufen sollte?
Nun – sehen wir zunächst ohne Kommentar, wie es in der Turnierpartie weiter gegangen ist.
Binder – Lasschuit, Potsdam 2016: Partieverlauf

Weiß hat also gewonnen, aber war das alles folgerichtig? – NEIN – Schwarz hat im Verlauf dieses Bauernendspiels zweimal je einen halben Punkt verschenkt. Die Anfangsstellung ist für ihn gewonnen, später verdirbt er sie zunächst zum Remis, dann zum Verlust. Zur Ehrenrettung meines Gegners muss gesagt werden, dass wir uns in der letzten Runde eines anstrengenden viertägigen Turnieres befanden. In dieser Partie waren bereits weit über vier Stunden gespielt und Schwarz befand sich in Zeitnot.

Bis zum 57. Zug haben beide Spieler nichts falsch gemacht. Das Bauernendspiel sieht Schwarz sehr klar im Vorteil. Doch an dieser Stelle unterläuft dem Nachziehenden der erste ernste Fehler.
Binder – Lasschuit, Potsdam 2016: Schwarz kann gewinnen

Nachdem Schwarz seine Stellung im 57. Zug zum Remis verdorben hat, bleibt die Stellung kurze Zeit ausgeglichen. Dann unterläuft dem Nachziehenden ein weiterer lehrreicher Fehler.
Binder – Lasschuit, Potsdam 2016: Schwarz kann Remis halten
Wir haben gesehen, dass Schwarz durch aktives Spiel am Damenflügel gerade noch rechtzeitig kommt, um die Partie remis zu halten. Wir wollen noch zwei Nebenaspekte dieser möglichen Entwicklung beleuchten:
Binder – Lasschuit, Potsdam 2016: Keine Zeit zum Schlagen auf h7
Eine Frage bleibt noch: Warum muss Schwarz im 61. Zug unbedingt a6-a5 spielen? Reichen nicht auch andere Züge am Damenflügel?
Binder – Lasschuit, Potsdam 2016: Nur a6-a5 hält remis




Grobs Angriff und das Romford-Gambit

Bild Zu den seltenen Gästen im Turniersaal gehört heute Grobs Angriff, der durch den Anfangszug 1.g2-g4 charakterisiert wird. Der Internationale Meister Henry Grob (1904 – 1974) aus der Schweiz hat viel für die Popularisierung dieses Zuges getan. Die Idee besteht darin, den Gegner zum Schlagen auf g4 einzuladen und seinerseits mit dem fianchettierten Läufer von g2 aus Druck auf die Stellung auszuüben. Dies wird mit dem frühen Aufzug des c-Bauern unterstützt, wonach der Punkt d5 und der Bauer b7 unter Beschuss geraten. Meist unterstützt auch die Dame von b3 aus diese Attacke.
Soweit die Grundidee dieser Eröffnung. Wie fast alle "exotischen" Spielanfänge wird auch Grobs Angriff praktisch nur von Spezialisten gespielt, die sehr viele Erfahrungen damit haben. Das macht diese Varianten – losgelöst von der rein schachlichen Bewertung – besonders gefährlich.

Wir wollen uns zunächst die häufigsten Entwicklungen aus dieser Eröffnung heraus anschauen. Prinzipiell steht Schwarz nach 1.g2-g4 d7-d5 2.Lf1-g2 vor der Entscheidung, ob er den Bauern g4 schlagen soll. Andererseits kann er mit 2… c7-c6 seinen Zentrumsbauern stärken. Beide Züge werden etwa gleich häufig gespielt. Die Erfolgsquote von c7-c6 ist deutlich besser als jene von Lxg4. Das muss aber nicht an der objektiven Klasse des Zuges liegen. Viel mehr kommt das Schlagen einfach dem vorgefertigten weißen Plan entgegen, während andere Züge den Grob-Spezialisten aus seinem Konzept bringen können.
Schwarz schlägt auf g4
Schwarz zieht zunächst c7-c6

Das war natürlich keine erschöpfende Analyse zu Grobs Angriff. Darüber sind ganze Bücher geschrieben worden – vom Befürwortern wie Gegnern der Idee gleichermaßen. Wir wollen hier nur auf die Existenz dieser Eröffnung aufmerksam machen und die Grundidee vorstellen.
Als Tribut an Grob und seine Adepten sollen einige amüsante Kurzpartien folgen, in denen die Weiß-Spieler für Mut und Kreativität belohnt wurden.
Bild Schulz – Raupach, Deutschland 2002
Herr Schulz und Frau Raupach spielten sechs Jahre später an gleichem Ort wieder gegeneinander: Gleiche Eröffnung, gleiches Ergebnis, diesmal 10 Züge…
Holick – Hämmerle, Österreich 1995
Horvath – Adam, Ungarn 2002
Soulie – Baxted, Frankreich 2012

Abschließend blicken wir noch auf eine faszinierende Möglichkeit, den Grob-Angriff mit einem Gegengambit zu bekämpfen. Es geht auf den Engländer Nick Pelling zurück, der es nach seiner Heimatstadt Romford benannte. Schwarz opfert bewusst die Qualität auf a8 und bekommt mit einer Reihe genauer Züge eine starke Position. Im zugehörigen Wikipedia-Artikel heißt es "Schwarz hat durch das Qualitätsopfer … freies Figurenspiel und Entwicklungsvorsprung. Mit einem Aufbau wie e7-e6, Sg8-f6, Sd7-e5, Lf8-c5 und 0-0 hat er einen klaren strategischen Entwicklungsplan, evtl. verbunden mit einem Königsangriff, während Weiß paralysiert auf der Grundreihe festsitzt." Damit ist wohl die rechts abgebildete Position sehr gut charakterisiert.
Die spannende Idee lohnt sicher, einmal ausprobiert zu werden. Man findet im Internet und in den Datenbanken nur wenige Beispiele zum Romford-Gegengambit, die zudem oft durch elementare Fehler eines der beiden Spieler entschieden werden. Die mit Abstand berühmteste Partie ist bislang die folgende:
Yeo – Dorn, London 1980




Nachschlag

Die Nachschläge sind immer ein fester Bestandteil dieser Trainingsserie. Kein Wunder – nach mehr als einem Dutzend Jahren findet sich natürlich zu praktisch allen Themen aktuelleres oder bisher übersehenes Material.
Dem Thema Unterverwandlung – im Fokus in Trainingsfolge Nr. 12 – widmen wir uns hier indes erstmalig. Immerhin ist es gleich eine doppelte Unterverwandlung, die unsere Aufmerksamkeit gefunden hat.
Fridman – Svane, Dresden 2015

Aus Folge 48 kennen wir das Motiv der "Zwangsjacke". Eine schöne Variation dazu – eingeleitet mit einem Damenopfer – gelang jetzt dem erfahrenen Berliner Meisterspieler Lothar Kollberg.
Kollberg – Astoreka, Berlin 2016

Außerdem erinnern wir aus gegebenem Anlass an Trainingseinheit Nr. 61 und das ausführliche Material zum Endspiel Turm + Läufer gegen Turm. Ausgerechnet im vorentscheidenden Spiel um das Herausforderungsrecht zur Weltmeisterschaft exerzierte Großmeister Caruana dieses Endspiel gegen den Russen Swidler. Caruana hätte das bekannte und auch von uns vorgestellte Gewinnverfahren nach Philidor erfolgreich einsetzen können. Die Tablebases zeigen einen Gewinn in 13 Zügen. Das hätte im konkreten Fall gerade noch gereicht, um die 50-Züge-Regel einzuhalten. Doch Caruana verpasste nach fast siebenstündiger Spielzeit die genaue Umsetzung des ihm natürlich bekannten Manövers.


Bryntse-Angriff II

In Trainingsmaterial Nr. 60 haben wir die faszinierende Angriffsidee des Schweden Arne Bryntse kennengelernt. Sie kulminiert in einem Damenopfer für zwei Leichtfiguren. Dabei entfacht Weiß allerdings heftigen Angriff und spielt sofort auf Matt.
Ich habe nun im Internet einen Blogbeitrag gefunden, der sich mit dieser exotischen Eröffnung befasst. Leider ist mir der Name des Autors nicht bekannt. Er stellt einige allgemeine Erwägungen zum Spiel im Bryntse-Angriff an, denen ich sehr zustimme und die ich deshalb hier zitieren möchte.

Schließlich zeigen wir noch zwei erfolgreiche Bryntse-Partien des Blog-Autors, die er im Internet gegen anonyme Gegner gespielt hat. Wir bringen sie hier mit knappen Kommentaren zur lehrreichen Unterhaltung.
Bryntse-Angriff – Beispielpartie 1, 2012
Bryntse-Angriff – Beispielpartie 2, 2014




Für Fragen, Kritiken und Anregungen bitte Email an mich

© Weitergabe und -verwendung nur nach ausdrücklicher Zustimmung.
Thomas Binder, 2016