Trainingsmaterial Nr. 38

Inhaltsverzeichnis

Eröffnungsfallen und Kurzpartien – Folge 20
Einführung in die Schachstrategie – Folge 13
Eröffnung intensiv – Folge 11
Bildhafte Begriffe am Schachbrett – Folge 4
Regelfragen – Folge 7
Final Fun




  Eröffnungsfallen und Kurzpartien
Heute: Der verwundbare Punkt c1(c8)

Das unerwartete Matt mit der Dame auf c8 bereits nach wenigen Zügen habe ich unlängst in einer Simultan-Partie gesehen. Aber auch im Turnierschach kommt es immer wieder vor. Zur Entschuldigung der unterlegenen Spieler kann nur angeführt werden, dass in dieser frühen Partiephase die Sinne noch nicht für ein solch triviales Matt geschärft sind.
Wenn man aber als Angreifer immer an diese Möglichkeit denkt, kann man sie mit anderen Kombinationsideen verbinden und dabei mindestens Material gewinnen.
Ohne großen Kommentar sehen wir uns als Warnung ein paar nette Beispiele an.

Wir sehen zunächst zwei verschiedene Grundmuster, wenn auch mit gleichem Ergebnis
Tuor – Gorla, Zürich 1999
Romano – Nejanky, Argentinien 2002

Im dritten Beispiel ist es ausnahmsweise nicht die Dame, die das Matt vollendet.
Noori – Burghardt, Dortmund 2001

In den nächsten Partien lässt Schwarz den Einschlag auf b7 zu und glaubt, anschließend die Herrschaft über die lange Diagonale zu bekommen. Damit rettet man zwar den Turm a8 – nicht aber den eigenen König.
Legrand – Peixoto, Frankreich 2001
Kikoyo – Barraclough, England 2004

Zum Schluss ein Blackmar-Diemer-Gambit. Auch wenn diese Partie nicht so ganz typisch ist, sieht man unser Motiv in dieser seltenen Eröffnung recht oft.
Cardo – Abdalla, Brasilien 2003




  Einführung in die Schachstrategie
Heute: Starke Doppelbauern

"Keine Regel ohne Ausnahme" – diese alte Weisheit gilt auch im Schach. Man glaubt, sich auf bestimmte allgemein gültige Einschätzungen zu verlassen und muss dann erkennen, dass gerade die aktuelle Stellung ganz anders zu beurteilen ist.
Wir wissen, dass Doppelbauern meist eine entscheidende Schwächung sind, aber es gibt eben auch Situationen, in denen sie die eigenen Chancen verbessern.
Was kann nun vorteilhaft an einem Doppelbauern sein?

Zunächst sehen wir zwei frühere Weltmeister in Aktion. Beide beherrschen ihre Gegner im Mittelspiel dank starker Doppelbauern, welche wichtige Feldkomplexe kontrollieren und Raumvorteil garantieren.
Botwinnik – Sorokin, Moskau 1931
Gabarain – Aljechin, Uruguay 1926

Zwei der stärksten Spieler aus der Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts stehen sich im nächsten Duell gegenüber. Karl Schlechter hielt seinerzeit einen WM-Kampf gegen den Titelträger Lasker unentschieden, Rubinstein sollte ebenfalls gegen Lasker antreten und wäre dabei sehr aussichtsreich gewesen. Jedoch verhinderte der 1. Weltkrieg einen WM-Kampf. In der vorliegenden Partie setzt er im Endspiel meisterhaft einen Tripel(!)bauern ein. Jeder der 3 Bauern erfüllt eine konkrete Aufgabe.
Rubinstein – Schlechter, Berlin 1918

Es folgen einige Studien zu reinen Bauernendspielen, in denen der Doppelbauer den Gewinn herbeiführt. Seine Stärke bezieht er aus Manövern von zweierlei Art:

Wir sehen einige Studien des Russen N. Grigoriew (1895 – 1938), der auf diesem Spezialgebiet frühzeitig wichtige Entdeckungen machte.
Im ersten Beispiel deckt der hintere Bauer auf sehr geschickte Weise den Vormarsch seines Kollegen. In der zweiten Studie sichert er mit einem Reservezug das typische Verfahren zur Bauernumwandlung ab. Die dritte Stellung zeigt den Fall, dass sich alle Bauern in der gleichen Linie gegenüber stehen. Während man früher diese Konstellation generell für Remis hielt, hat Grigoriew gerade dazu neue Ideen beigesteuert.
Studie von Grigoriew, 1930
Studie von Grigoriew, 1935
Studie von Grigoriew, 1935

Zum Schluss sehen wir ein sehr interessantes Mattbild aus einer Partie der Berliner Jugendmeisterschaft U16 im Jahre 2006 – allerdings kam es dort nicht wirklich aufs Brett.
Schmidt – Guist, Berlin 2006




  Eröffnung intensiv
Max-Lange-Angriff

Mit dem Max-Lange-Angriff lernen wir eine ehrwürdige aber auch heute noch faszinierende Eröffnungsvariante kennen. Besonders bemerkenswert ist, dass sie sich aus ganz verschiedenen Eröffnungen ergeben kann.

Das Trainingsmaterial dazu befindet sich in einem eigenen Dokument:
Der Max-Lange-Angriff




  Bildhafte Begriffe am Schachbrett

Die Sprache der Schachspieler ist und bleibt sehr bildhaft. Einige weitere Begriffe wollen wir heute kennen lernen. Ganz nebenbei sehen wir dabei auch taktische Motive, die im alltäglichen Spiel von Nutzen sein können.

Rolltreppe Die Rolltreppe ist ein nettes optisches Motiv, bei dem eine Figur (Dame oder Turm) in kleinen rechtwinkligen Schritten Stufe für Stufe vorangeht und dabei den entscheidenden Angriff ausführt. Besser als jede Beschreibung können dies praktische Beispiele verdeutlichen.
Jazeschen – Stanescu, Deutschland 1995
Lowcki – Tartakower, Polen 1937
Studie von Kasparjan
Röntgenwirkung Bei diesem Motiv wirkt eine langschrittige Figur (Dame, Turm oder Läufer) "durch eine andere Figur hindurch". Die durchstrahlte Figur kann eine eigene oder eine gegnerische sein. Mit der Röntgenwirkung kann man sowohl aktive als auch verteidigende Wirkungen erzielen. Wir sehen dafür je ein einfaches Beispiel aus meiner eigenen Praxis.
Binder – Bressler, Berlin 2001
Binder – Main, Potsdam 2005
Ersticktes Matt Das erstickte Matt ist uns bereits als wichtige Eröffnungsfalle bekannt. Es kann aber auch in späteren Partiephasen aufs Brett kommen. Der absolute Rekord ergibt sich, wenn der König von 8 eigenen Figuren umstellt ist – mehr geht nicht. Die bisher einzige bekannte Partie mit einem solchen Finale wurde 1926 gespielt.
Viney – Gook, England 1926



  Regelfragen – Remis durch Stellungswiederholung

Diese Regel scheint ganz einfach zu sein – und so wird sie leider auch im Alltag betrachtet: "Drei mal die gleiche Stellung = Remis".
Doch sie birgt einige Tücken:

Sehen wir also zunächst, wann wirklich eine Stellungswiederholung vorliegt:

Gerade der letztgenannte Umstand wird oft übersehen oder führt zu Missverständnissen.
Eine nette Aufgabe, die ohne Beachtung dieser feinsinnigen Regel gar nicht lösbar wäre, soll das verdeutlichen.
Studie von Platow
Für das schnellste Matt musste Weiß dem Gegner zunächst das Recht zur kurzen Rochade und dann jenes zur langen Rochade nehmen. Dabei entsteht zwar 3x die gleiche Stellung mit Weiß am Zuge, aber wegen des veränderten Rochaderechtes ist eben nicht an ein Remis zu denken.

Berühmt wurde der Fall des früheren Weltmeisters Karpow, der eine Stellungswiederholung anmahnte, die gar keine war:
Karpow – Miles, Niederlande 1986

Im nächsten Beispiel sehen wir den (recht seltenen) Fall mit gleicher Stellung aber wechselndem Zugrecht.
Bobozow – Zwetkow
Diese Partie zeigte auch, dass man keineswegs von "Zugwiederholung" sprechen sollte, denn hier waren ganz verschiedene Figuren daran beteiligt, die Stellung zu wiederholen.

Nun zum korrekten Verhalten, wenn man ein Remis gemäß dieser Regel beanspruchen will:
Nur der am Zug befindliche Spieler kann ein Remis anfordern. Das heißt er muss dies tun, bevor er seinen Zug ausführt. Wenn er mit seinem Zug die Stellungswiederholung herbeiführen will, soll er dies klar – ggf. gegenüber dem Schiedsrichter – ankündigen und den Zug nur notieren, aber nicht ausführen.
Hat man seinen Zug ausgeführt, so ist eben der Gegner an der Reihe und kann u.U. einer weiteren Stellungswiederholung ausweichen.

Hat der Gegner die Stellungswiederholung mit seinem Zug hergestellt, ohne es anzusagen, kann man – wiederum vor Ausführung eines Zuges – das Remis einfordern. Wenn man hingegen einen abweichenden Zug ausführt, ist diese Chance vertan.

Natürlich kann man später bei erneutem Auftreten der gleichen Stellung oder dreifacher Wiederholung einer anderen Position immer noch auf Remis bestehen.

Die Nichtbeachtung dieser Regel kommt übrigens auch auf höchster Ebene vor. In einer Partie um die Weltmeisterschaft der Damen 1972 forderte die Weltmeisterin nach Ausführung ihres Zuges ein Remis an, musste aber nach Entscheidung des Schiedsrichters weiter spielen.

Was passiert nun, wenn sich die Spieler nicht einig werden oder sich der Anspruch auf Remis sogar als unbegründet erweist?
Wenn nicht auf den ersten Blick klar ist, ob eine Stellungswiederholung vorliegt, so sollte man in aller Ruhe und ohne Emotionen die entscheidende Phase der Partie nachspielen. Dazu werden zuallererst die Uhren angehalten. Dann geht man möglichst in eine ruhige Ecke wo niemand sonst gestört wird und spielt die Partie anhand der Mitschrift nach. Wenn die Stellungswiederholung sich bestätigt, ist die Partie remis.

Anderenfalls bekommt der beantragende Spieler eine kleine Zeitstrafe. Der Gegner erhält (als Ausgleich für die entstandene Aufregung und Störung) 3 Minuten hinzu. Dem im Irrtum befindlichen Spieler werden diese 3 Minuten abgezogen. Dabei darf ihm jedoch maximal die Hälfte seiner Zeit genommen werden (also z. B. bei 4 Minuten Restzeit nur ein Abzug von 2 Minuten). Bei weniger als 2 Minuten Restzeit bleibt ihm eine Minute, bei weniger als einer Minute Restzeit wird ihm nichts mehr abgezogen.
Die Angst vor einem Zeitabzug und die turbulente Stellung führten wohl auch in der folgenden Partie dazu, dass nicht jede Stellungswiederholung reklamiert wurde.
Lafer – Saladin, 1995

In der folgenden Partie zweier Weltklassespieler hatte der Verzicht auf die Remisreklamation schließlich den Partieverlust zur Folge.
Larsen – Keres, USA 1972


Und hier noch einmal für alle, die es genau wissen wollen, der offizielle Regeltext:
Die Partie ist remis aufgrund eines korrekten Antrages des Spielers, der am Zuge ist, wenn dieselbe Stellung mindestens zum dritten Mal (nicht notwendigerweise durch Zugwiederholung)
a) sogleich entstehen wird, falls er als erstes seinen Zug auf sein Partieformular schreibt und dem Schiedsrichter seine Absicht erklärt, diesen Zug ausführen zu wollen, oder
b) soeben entstanden ist und der Antragsteller am Zug ist.
Stellungen unter a) und b) gelten als gleich, wenn der gleiche Spieler am Zuge ist, Figuren der gleichen Art und Farbe die gleichen Felder besetzen und die Zugmöglichkeiten aller Figuren beider Spieler gleich sind. Stellungen sind nicht gleich, wenn ein Bauer, der en passant geschlagen werden konnte, nicht mehr geschlagen werden kann, oder wenn sich das Recht zu rochieren vorübergehend oder endgültig geändert hat.




  Final Fun

Immer wieder kommt es vor, dass sich 2 Spieler bereits vor ihrer Partie einig werden, dass sie gegeneinander Remis spielen wollen. Die Regeln unseres Spiels sehen einen solchen "Nichtangriffspakt" aber gar nicht gerne und es hat bereits Fälle gegeben, in denen beide Spieler für dieses Verhalten bestraft wurden. So bleibt ihnen meist nichts anderes übrig, als ein paar belanglose Züge zu machen und sich dann die Hände zu reichen.
Die Gründe für solche Friedfertigkeit sind vielfältig:

Auch ich selbst habe bereits solche "Partien" "gespielt" – sei es mit Freunden oder Vereinskameraden, oder bei einem Turnier 1988, als sich die 5 Top-Spieler einig waren, einen besonders unsympathischen Gegner (damals 15 Jahre, später Bundesligaspieler) auf diese Weise aus den vorderen Rängen fernzuhalten…

Doch in vielen Fällen geben sich die Spieler nicht mit einigen lustlosen Pro-Forma-Zügen zufrieden. Dann graben sie die eine oder andere berühmte Remispartie aus oder konstruieren gemeinsam selbst eine attraktive Zugfolge, mit der wenigstens den Zuschauern etwas geboten wird.
Einige dieser typischen Beispiele haben wir bereits kennen gelernt. Weitere sollen heute folgen.
Erinnern wir uns zunächst:

Nun zu einigen weiteren kuriosen Ideen dieser Art. Da es sich nicht wirklich um ernsthafte Schachpartien handelt, verzichte ich auf einen Kommentar. Unterhaltsam anzusehen sind die Partien dennoch – Viel Spaß.

Das "unsterbliche Spiegelspiel" – allerdings keine wirkliche Turnierpartie sondern ein Blitz-Spielchen zur Entspannung zwischen zwei ernsthaften Runden. Anmerkungen nach Graem Cree (Übersetzung: Th. Binder)
Hackbart – Cree, USA 1988

Von anderem Kaliber ist die folgende – offenbar abgesprochene – Remispartie aus einer portugiesischen Jugendmeisterschaft.
Silva – Rafael, Portugal 1978
Nach sinnlosem Verlauf (z.T. werden ein- bis kurzzügige Matts ausgelassen) ist es ausschließlich die Schlussstellung der Partie, die hier Interesse verdient. Bei genauer Betrachtung ist natürlich auch diese nicht Remis.
Ist es Zufall, dass die Partie genau 64 Züge dauerte – also die Zahl der Felder auf dem Schachbrett?

Verschiedene Legenden ranken sich um die Partie der (späteren) Großmeister Hübner (Deutschland) und Rogoff (USA) bei der Mannschafts-WM der Studenten 1972. Klar ist, dass sich beide Spieler eine Auszeit in Form eines kampflosen Remis verschaffen wollten. Doch die Schiedsrichter kannten keine Gnade und bestanden auf einer "normalen" Partie. Die beiden Spieler lieferten sich eine bizarre Zugfolge ohne jeden schachlichen Gehalt und einigten sich schnell auf Remis.
Die schachlich völlig reizlose Partie sei ohne Kommentar wiedergegeben.
Hübner – Rogoff, Österreich 1972
Doch die Schiedsrichter zeigten keine Spur von Humor: Sie wollten sich nicht veralbern lassen und setzten eine neue Partie an. Das gefiel nun wieder Robert Hübner nicht so recht. Er trat zur Neuansetzung nicht an und verlor somit kampflos.

Eine recht dumme und auffällige Art, abgesprochener Remis ereignete sich in der serbischen Meisterschaft 2000. Innerhalb der gleichen Runde verliefen zwei Partien (Popovic – Scekic und Vojinovic – Grujic) Zug für Zug identisch und endeten remis. Pikant daran war, dass die jeweiligen Schwarzspieler gleich 6x einen (den gleichen) Gewinnzug ausließen… Das betreffende Motiv (einen Bauerndurchbruch) werden wir anhand anderer Partien in Trainingseinheit 42 kennen lernen.

Kaum zu glauben: Aber auch der umgekehrte Fall kommt vor: Eine Partie, die völlig klar Remis enden wird, aber nicht Remis enden soll.
So geschehen im Jahre 2000 in der 2. Bundesliga Süd. Da standen sich Aufstiegsanwärter SC Pasing und der in Abstiegsgefahr befindliche VfL Sindelfingen am letzten Spieltag gegenüber. Der Mannschaftskampf stand 3,5:3,5 und auch die letzte Partie lief auf ein Remis hinaus. Alles klar also – 4:4.
Doch nun erkannte man die Misere: Bei einem 4:4 würde Pasing nicht aufsteigen, Sindelfingen aber absteigen. Beide Teams brauchten einen Sieg, um ihr sportliches Ziel zu erreichen. Remis oder Niederlage hingegen waren gleich ungünstig. Doch aus der letzten Partie war für keinen Spieler mehr als ein halber Punkt herauszuholen.
So trafen sich – wird berichtet – die beiden Mannschaftsführer und warfen das Los. Der Sindelfinger verlor und damit war man sich einig, dass sein Spieler die Partie aufgeben sollte. Völlig unnötig und demonstrativ durch Abwesenheit vom Brett brachte sich der Internationale Meister Estrada nun in Zeitnot und machte dann einen Fehler, für den jeder Anfänger vor Scham erröten müsste.
Gschwendtner – Estrada, Deutschland 2000, 2. Bundesliga
Damit hatten die Pasinger ihr Ziel erreicht: Sie gewannen mit 4,5:3,5 und stiegen in die 1. Bundesliga auf, Sindelfingen verließ die 2. Liga ebenfalls – aber nach unten.
Doch die Sache hatte ein Nachspiel: Der merkwürdige Spielverlauf wurde ruchbar. Die um den Aufstieg geprellten Spieler einer anderen Mannschaft protestierten und bekamen Recht. Der Staffelleiter erkannte Pasing die beiden Siegpunkte ab und verhinderte damit den unverdienten Aufstieg. Auch Sindelfingen stand am Ende mit leeren Händen da: Das Spiel wurde für beide Teams als verloren gewertet. Sindelfingen hatte schließlich am Brett verloren und Pasing aus einer offensichtlichen Unsportlichkeit Vorteil ziehen wollen.




Für Fragen, Kritiken und Anregungen bitte Email an mich

© Weitergabe und -verwendung nur nach ausdrücklicher Zustimmung.
Thomas Binder, 2006