Trainingsmaterial Nr. 70

Inhaltsverzeichnis

Herderschach-Highlights
Dazwischenziehen ins Schach – manchmal sinnvoll?
Glanzstücke der Schachgeschichte – Folge 29
4 x 4 – im Quiz-Format
Studien zum Thema Dominanz
Bouncing Bishops
Nachschlag
Final Fun




Herderschach-Highlights

Die Zahl hervorragender Partien der Schüler im Rahmen des Projektes Herderschach ist schier unüberschaubar. Heute wollen wir auf einige Highlights blicken, die sich seit unserer letzten Trainingsausgabe ergeben haben.

Den Auftakt macht Justin Fadeev mit einem spektakulären Partieschluss gegen einen damals fast 500 Elo-Punkte stärkeren Spieler.
Fadeev – Yatskar, Berlin 2022

Etwa ein Jahr später lässt Peter Khutko in der Vorrunde der Berliner u14-Meisterschaft eine schöne Mattkombination vom Stapel.
Khutko – John, Berlin 2023




Dazwischenziehen ins Schach – manchmal sinnvoll?

Man lernt es schon als Anfänger: Das Dazwischenziehen einer ungedeckten Figur in die Wirkungslinie eines Schachgebotes ist in aller Regel sinnlos und macht die Dinge nur noch schlimmer. Man verliert ja weiteres Material und steht danach mit dem gleichen Problem (dem Schachgebot) weiterhin da.
Es gibt aber auch Situationen, in denen genau ein solcher Zug Rettung oder gar Gewinn verspricht. Oft blenden wir Schachspieler aber einen solchen Zug automatisch aus und lassen die damit verbundene Chance verstreichen.

Das Paradebeispiel ist die berühmte Studie von Leopold Mitrofanow, die wir uns bereits in Trainingseinheit 30 angesehen haben.
Heute wollen wir den Gedanken neu aufnehmen und uns einige weitere Beispiele anschauen, die zudem nicht aus erdachten Kompositionen, sondern aus tatsächlich gespielten Partien stammen.

Aus meinen eigenen Turnierpartien erinnere ich vor allem an die Partie gegen Guido Weyers (Berlin, 2011). Ich habe sie in Trainingseinheit 56 ausführlich unter dem Aspekt der "psychologischen Initiative" besprochen. Die dort als "2. Szene" vorgestellte Partiephase zeigt, dass sich mein Gegner durch ein scheinbar sinnloses Dazwischen-Ziehen in ein Schachgebot vorteilhaft hätte aus der Affäre ziehen können. Jedoch hatten beide Spieler (und alle Beobachter) diese Möglichkeit ausgeblendet, und die Partie nahm einen ganz anderen Verlauf.

Wesentlich unspektakulärer war eine Rettung aus Dauerschach, die mir wenige Jahre später gelang.
Binder – Zesewitz, Berlin 2014

Zwei weitere instruktive Praxisbeispiele haben wir im "Nachschlag" zum Mitrofanow-Thema in der Trainingseinheit 53 gesehen. Um Dopplungen zu vermeiden, verweise ich den Leser also auf die dort gezeigten Partien Ermenkow – Sax und Möhring – Kaikamdsosow.

Selbst der große Reshevsky wäre um ein Haar Opfer eines derartigen Zuges geworden. Sein Gegner ließ die hübsche Möglichkeit leider ungenutzt verstreichen.
Lapiken – Reshevsky, USA 1955

Abschließend ergänzen wir mit einem weiteren Beispiel, in dem der betroffene Spieler die Rettung durch ein "sinnloses" Dazwischenziehen verpasste. Man ist fast geneigt, ihm dafür zu danken, weil somit ein schönes Mattbild möglich wurde – doch die Wahrheit liegt bei der verpassten Rettungschance.
Berczes – Banusz, Ungarn 2010




Glanzstücke der Schachgeschichte

Das erste Glanzstück, das wir uns heute anschauen wollen, stammt aus einer Partie, die in der Literatur unter verschiedenen Namen und weiteren Angaben geführt wird. Offenbar stammt sie aus der 2. Schweizer Bundesliga. Sie wird in vielen Sammlungen der "besten Partien aller Zeiten" genannt – obwohl das hochgelobte Damenopfer eigentlich im falschen Moment gespielt wurde.
Meier – Müller, Schweiz 1994

Schauen wir nun auf zwei Höhepunkte aus dem Schaffen von Wladimir Simagin (1919 – 1968). Er gehörte zu jenen Spielern der zweiten und dritten Reihe des sowjetischen Schachs, denen wegen der erdrückenden Übermacht von Weltklassespielern internationale Anerkennung weitgehend versagt blieb. In jedem anderen Land hätten sie zur absoluten Spitze gehört.
Simagin – Abramson, Sowjetunion 1960
Jakubowutsch – Simagin, Moskau 1936

Schließlich ein Beispiel, das man sich auch als Lehrbeispiel für schnelle Figurenentwicklung und die Kraft des Läuferpaares hätte ausdenken können. Doch es ist sogar eine "echte" Partie – mit einem Damenopfer als Sahnehäubchen.
Hartlaub – Testa, Bremen 1912




4 x 4 – im Quizformat

Weiter geht es im beliebten Quizfomat. Bitte löst auch diesmal die Aufgaben "vom Blatt" ohne Computerhilfe und möglichst auch ohne Schachbrett.

  1. Weiß ist am Zug. Wie wird die Partie bei richtigem Spiel beider Seiten ausgehen?
    1. Weiß wird schnell mattgesetzt. Er kann aufgeben.
    2. Weiß ist am Zug und nutzt das seinerseits für gewinnbringenden Mattangriff.
    3. Weiß rettet sich ins Remis.
    4. Weiß kann zwar das Matt abwehren, verliert aber wegen des großen materiellen Rückstandes.
  2. In einer Simultanpartie hat Weltmeister Kasparow die weißen Steine und ist am Zug. Wie schätzen wir die Stellung ein?
    1. Mit Lxa6 gewinnt Weiß einen wichtigen Bauern und steht auf Gewinn.
    2. Lxa6 ist ein schwerer Fehler. Danach gewinnt Schwarz.
    3. Weiß hat einen anderen klaren Gewinnweg.
    4. Weiß steht in jedem Fall bereits auf Verlust.
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Aufgabe 1 Aufgabe 2
  1. Weiß hat Materialvorteil und einen starken Freibauern. Wie soll er weiterspielen?
    1. Ganz klar: Turmtausch auf c2 und danach De8+ gewinnt sofort.
    2. Der Turmtausch ist ein schwerer Fehler.
    3. Weiß kann trotz seines Materialvorteils nicht gewinnen.
    4. Weiß steht sogar so schlecht, dass er sofort aufgeben sollte.
  2. Dies würde ich eher als Scherzaufgabe bezeichnen: Wie soll Schwarz fortsetzen?
    1. 46… Sc6-e5
    2. 46… h7-h6
    3. 46… Sc6-a5
    4. Schwarz soll einen anderen Zug spielen.
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Aufgabe 3 Aufgabe 4
Die Lösungen

Bitte erst in die Lösungen schauen, wenn ihr euch für eine der Antworten A – D entschieden habt.

Aufgabe 1: Bartolovich – Abkin, Russland 1902
Aufgabe 2: Kasparow – Runkel, Deutschland 1985
Aufgabe 3: NN – Binder, Online-Partie 2024
Aufgabe 4: Binder – Kaase, Potsdam 2024




Studien zum Thema Dominanz

Wir haben schon hin und wieder auf Situationen geschaut, in denen eine Figur bei scheinbar offenem Brett völlig aus dem Spiel genommen – also dominiert – wird. Heute sollen einige interessante Studien zu diesem unerschöpflichen Thema folgen.

Beginnen wir mit einem recht einfachen und doch eindrucksvollen Fall:
Studie von Rinck, 1935
Das Grundmotiv dieser Studie finden wir bereits 1896 bei dem großen russischen Studien-Experten Troitzky. Verfeinert wird die Idee hier durch das allgegenwärtige Studienthema "Zugzwang".
Studie von Troitzky, 1896

Die Standardzugfolge bei einer solchen Dominanz des Springers über einen Läufer wird im englischen Sprachraum mit dem einprägsamen Motto "lure – force – fork" bezeichnet. Auf Deutsch bedeutet dies etwa "Locken – Zwingen – Gabeln". Sehen wir dazu ein einfaches Beispiel:
Studie von Kubbel, 1909

Eine sehr instruktive Sammlung solcher Dominanzaufgaben findet man bei Lichess unter diesem Link.




Bouncing Bishops

Durch das hervorragende Buch "Zwischenzug!" von Natasha Regan und Matt Ball wurde ich auf das Motiv der "bouncing bishops", der hüpfenden oder aufprallenden Läufer, aufmerksam.
Die Autoren untersuchen das Thema "Zwischenzüge" systematisch und entdeckten dabei viele taktische Motive, die für die Anwendung als Zwischenzug prädestiniert sind.

Nun also zu den "bouncing bishops". Das einführende Beispiel aus dem Buch ist sehr instruktiv. Genau genommen, ist es zu schön, um wahr zu sein.
Bouncing Bishops – Einführungsbeispiel

Warum "zu schön, um wahr zu sein"? Nun – im Buch wird behauptet, man hätte diese Stellung mehr als 100x in der Mega-Database gefunden. Ich fand sie dort überhaupt nicht, was mich zunächst an meiner Datenbank-Software und erst an dann an der Ehrlichkeit der Autoren zweifeln ließ.
Tatsächlich enthalten alle betreffenden Partien einen zusätzlichen weißen Springer auf b1. Damit sind wir in einer aus der Eröffnungstheorie bekannten Stellung, die sich im Marshall-Angriff der Spanischen Partie ergeben kann.
Mit dem zusätzlichen Springer funktioniert die Grundidee immer noch. Die verbleibende Stellung ist aber eben nur leicht vorteilhaft für Schwarz.

Um der Wahrheit willen hier die Statistik mit Datenbankstand vom Mai 2024:
Ausgangspunkt ist die Partiestellung mit zusätzlichem Springer auf b1.

Kurzes Fazit: Das "Zurechtbiegen" der Stellung für Lehrzwecke ist natürlich legitim. Dann sollte man aber eben nicht schreiben, man habe sie genau so in der Mega Database gefunden und darauf eine ähnliche Statistik aufbauen, wie ich es oben getan habe.


Nun endlich wieder zu den Bouncing Bishops. Einige weitere Beispiele aus dem – wie gesagt wirklich großartigen – Buch von Regan und Ball wollen wir uns noch anschauen.
Zunächst eine Partie aus dem slowakischen Ligabetrieb:
Gyuricsek – Horn, Slowakei 2019

In den weiteren Partien "springt" der Läufer vorwärts mit einer Zwischenlandung. Er "bounct" etwa so, wie ein flach über das Wasser geworfener Stein.
Barczi – Kovacik, Slowakei 2022
Cramling – Barkhagen, Schweden 2001




Nachschlag

Heute sehen wir ein historisches Vorbild zum Thema des passiven Läuferopfers. Ignaz von Kolisch gehörte seinerzeit zu den besten Spielern der Welt.
Mandolfo – Kolisch, 1858




Final Fun

Im New Yorker Washington Square Park treffen sich wohl zu jeder Tages- und Nachtzeit Schachbegeisterte zu lockeren Blitzpartien. Darunter befinden sich auch manche "Glücksritter", die sich dabei ein kleines Taschengeld verdienen. Dass sie dabei nicht wirklich Turnierruhe einhalten, versteht sich von selbst. Aber auch manch anderer "Trick" kommt sicher hin und wieder zur Anwendung.
Im Jahre 2016 traf ein solcher Spieler – ohne es zu wissen – auf den US-amerikanischen Großmeister Maurice Ashley. Das Video davon ging im Internet viral. Neben der allgemeinen Atmosphäre mit "Trash-Talk" von beiden Seiten hat vor allem eine Szene immer wieder die Lachmuskeln strapaziert.

Sehen wir zunächst das Video auf youtube. Achtung: Externer Link!
"Wilson" – Maurice Ashley, Video bei youtube, Dauer ca. 4:20 Minuten

Kurze Anmerkung zu einem Detail: Wer genau hinsieht, erkennt, dass der Großmeister bei der Rochade beide Hände benutzt. Zur Zeit der Handlung war dies noch erlaubt, später wurde es in den FIDE-Regeln verboten.

Und nun zum seriösen schachlichen Teil: Hier die Notation der Partie mit kurzen Anmerkungen:
"Wilson" – Ashley, New York 2016




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Thomas Binder, 2024