Es sind Geschichten wie die um Otto Preuß, die sich im Gedächtnis eines Vereins eingraben und für die Nachwelt aufbewahrt
werden müssen.
Wie wir wissen, war Deutschland – und war die Stadt Berlin – für mehrere Jahrzehnte durch eine
politische Grenze geteilt. Es muss an dieser Stelle nicht erschöpfend darauf eingegangen werden, wie diese Teilung das Leben
der Menschen beeinflusste und wie man – auf beiden Seiten – versuchte, sich mit den Gegebenheiten zu
arrangieren, das scheinbar Unvermeidliche hinzunehmen.
Doch die "Berliner Mauer" teilte nicht nur die Stadt, sie ging auch direkt durch unseren Verein.
Otto Preuß (geboren 1898) gehörte dem SK Werner Siemens seit 1923 an. Er war einer unserer zuverlässigsten und dem Verein treuesten Spieler. Schon die Turnierergebnisse aus der Vorkriegszeit belegen, dass er ein solider Schachspieler mit respektablem Können gewesen sein muss.
Otto Preuß wohnte in der Gemeinde Schönwalde bei Falkensee und dieses gehörte nach der Teilung Deutschlands zunächst zur
sowjetischen Besatzungszone, später zur DDR. Es ist amüsant, dass sich mancher Vereinsfunktionär auch in späteren Jahren
elegant um die ungeliebte Bezeichnung "DDR" drückte, indem er von "Schönwalde, Kreis Nauen" sprach.
Zunächst war die innerdeutsche Grenze kein großes Problem. Bis Ende der 1950er-Jahre war sie in Berlin vergleichsweise einfach
zu überwinden. Viele Menschen machten sich dies zunutze, indem sie im Westteil der Stadt arbeiteten, aber in Ost-Berlin
oder dem Umland wohnten. Zu ihnen dürfte auch Otto Preuß gehört haben, der nach dem Krieg vermutlich seine Arbeit bei der
Firma Siemens wieder aufnahm.
In diesen Jahren erlebte Otto Preuß seine schachliche Blütezeit. 1951 wurde er Vizemeister unseres Vereins, verlor nur eine
Partie. Schon 1950 hatte er mit Platz 4 seine Stellung in der absoluten Spitzengruppe bewiesen. Auch in späteren Jahren
gehörte er zur 1. Klasse unserer Vereinsmeisterschaften, die damals mit Auf- und Abstieg entschieden wurden. Nach dem
Abstieg (wohl 1956) spielte er eine gute Rolle in der B-Gruppe und schaffte 1960 nach erfolgreichem Stichkampf den Wiederaufstieg.
Doch die folgende Meisterschaft konnte Otto Preuß nicht mehr absolvieren.
Im August 1961 wurde die "Berliner Mauer" errichtet und damit jede Reisemöglichkeit zwischen Westberlin und dem Ostteil der
Stadt wie auch dem Umland brutal unterbunden. Wir wissen nicht, welches Schicksal Schachfreund Preuß (inzwischen dem Rentenalter
nahe) in den folgenden gut 10 Jahren erfuhr. Wir wissen aber, dass er formal Mitglied der SG Siemens blieb und den Kontakt
zu seinen Vereinskameraden aufrecht erhielt.
Es war damals in Westberlin durchaus politischer Wille, den Kontakt zu Vereinsmitgliedern
aufrecht zu erhalten, die in Ostberlin oder der DDR wohnten. Man kann darüber streiten, ob diese Aktivitäten nicht nur eine
Alibi-Funktion hatten, da sich die Verantwortlichen doch längst mit der Existenz zweier deutscher Staaten und einer
unüberwindlichen Mauer zwischen ihnen abgefunden hatten – für die praktische Wirksamkeit des fortgesetzten Kontakts legt unser
Verein beredtes Zeugnis ab.
Mindestens einmal pro Jahr übersandten die Schachfreunde ihrem verdienstvollen "Ost-Mitglied" ein Geschenkpaket mit den
vielen Kleinigkeiten, die in der DDR Mangelware oder gar nicht zu bekommen waren. Für diese Päckchen stellte der Schachverband
– und in seinem Hintergrund wohl die Stadt Berlin – die finanziellen Mittel zur Verfügung. Für 20 D-Mark konnte
man damals noch einen recht ansehnlichen Warenkorb zusammenstellen, der dem Freund im Osten ganz gewiss große Freude bereitet
haben wird. Die uns erhaltenen Inhaltsangaben sprechen u.a. von Schokolade, Kaffee, Gebäck, Zigaretten…
Während also die Kosten von anderer Seite übernommen wurden, blieben die Beschaffung, liebevolle Verpackung und der Versand
natürlich Aufgabe unserer Vereinsmitglieder.
Dass die Versendung der Geschenkpäckchen und die Kostenübernahme durch den Schachverband nicht ganz ohne bürokratische
Hürden vor sich ging, wird niemanden verwundern. Aus heutiger Sicht mutet der akribische Schriftverkehr aber doch etwas
paradox an.
Lesen wir in einem Schreiben des Schachverbandes von 1963:
"Nach Eingang der vom Verein festgestellten Zahlen Ihrer Ostmitglieder ist Ihnen heute für ein Mitglied der Betrag von
DM 20,-- überwiesen worden, den Sie entsprechend den bereits zugesandten Richtlinien für den Versand der Pakete verwenden
wollen. … Darüber hinaus bitte ich, die Verwendungsnachweise ordnungsgemäß auszufüllen und eine einwandfreie
Abrechnung vorzunehmen. In der Anlage überreiche ich 1 Verwendungsnachweis in dreifacher Ausfertigung."
Einen Eindruck von den hier genannten Richtlinien mögen folgende Auszüge vermitteln:
"…einfache aber detaillierte Original-Rechnungen des Kaufhauses sowie Postabschnitte bzw. Einschreibzettel…"
… "Jede einzelne Rechnung muß vom Verein mit dem Vermerk "Sachlich richtig und festgestellt" (rot) sowie
Vereinsstempel und Unterschrift … versehen sein." …"Die 3 Verwendungsnachweise sind mit Vereinsstempel sowie
vom Vereinsvorsitzenden und Kassierer unterschrieben zurückzureichen."
Eigentlich können wir über diese strengen Vorgaben glücklich sein – sind sie doch wohl der Grund dafür, dass uns noch
heute entsprechende Dokumente erhalten sind. Die Abbildungen auf dieser Seite zeigen Belege von 1961(!), 1962 und 1970.
Unsere Verantwortlichen erfüllten auch ihre bürokratischen Pflichten bei der Versendung der "Liebesgaben" zuverlässig, wie aus folgenden Zeilen von Helmut Ide ersichtlich ist: "… teile ich Ihnen mit, daß ich die Versendung von Paketen mit Liebesgaben an unseren in der sowj. Besatzungszone lebenden Schachfreund Otto Preuß seit jeher übernommen habe. Ich habe zuletzt folgende Pakete abgesandt: 1 Paket zu Lasten des Berliner Schachverbandes Ende Oktober 1969, 1 Paket zu Lasten des Berliner Schachverbandes am 8.5.1970 …"
1971 übersiedelte Otto Preuß nach Westberlin. Ganz selbstverständlich nahm er seinen Platz im Kreise der Schachfreunde wieder
ein. 1972 bis 1974 rangierte er in der B-Gruppe unserer Vereinsmeisterschaft im Mittelfeld. Bis 1973 stand er auch noch in
unserer BMM-Mannschaft.
Wülfing Etter charakterisiert ihn 1974 mit den Worten: "Diese Unterbrechung war einfach zu lang, um den Anschluß an
die frühere Ebene … wiederzugewinnen. Wer seinem heutigen Spiel zuschaut, gewahrt noch deutlich von der Kraft
seines Stils, der noch immer den Eindruck erweckt, auch jedem Erstklassigen damit gefährlich werden zu können."
1978 ist Otto Preuß nach 55jähriger Mitgliedschaft aus Altersgründen aus dem Verein ausgetreten. Das Foto am Beginn dieser Seite zeigt ihn anlässlich einer Jubiläumsfeier 1975.
Wir freuen uns, dass wir Frau Konstanze Soch (Institut für Geschichte der Universität Magdeburg) mit diesen Geschichtsdokumenten bei Ihrer Promotion zum Thema "deutsch-deutscher Paketverkehr" unterstützen können.